Reinhold Gravelmann: Jugend online! Soziale Arbeit offline?

Aktuell drei Rezensionen veröffentlicht (s.u.)

  • Mel-David Tersteegen, Mai 2024, socialnet (s.u.)
  • Marus Müller, Juni 2024, Merz - Zeitschrift für Medienpädagogik, Ausgabe 2.2024 unter der Rubrik Publikationen (s.u.)
  • Peter-Ole Jagdt, Okt. 2024, Forum Erziehungshilfe, 4-2024 (s.u.)

Mel-David Tersteegen, 02.05.2024

www.socialnet.de/rezensionen/31760.php

Reinhold Gravelmann: Jugend online! Soziale Arbeit offline? Digitale Lebenswelten junger Menschen als Herausforderung für die Praxis Sozialer Arbeit. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2024. 157 Seiten. ISBN 978-3-7799-7594-6. D: 25,00 EUR, A: 25,70 EUR.
Reihe: In Beziehung stehende Ressource: ISBN: 9783779967583.

 

Thema

Die Digitalisierung und deren Einfluss ist mittlerweile immer wieder ein zentrales Thema in vielen Debatten. Die Auswirkungen können diskutiert werden, sind jedoch unumgänglich vorhanden. Demzufolge ist dieser Prozess auch im Kontext der Sozialen Arbeit spürbar. Daraus ergeben sich viele Fragen, vor allem wenn sich ein Teil der eigenen Zielgruppe bereits tiefgreifend mit diesem Gegenstand auseinandersetzt. Wie ist die Soziale Arbeit im Bezug zu digitalen Medien einzuordnen und wie kann diese aufgrund dessen agieren?

 

Autor

Reinhold Gravelmann ist Dipl. Pädagoge, Dipl. Sozialpädagoge, Referent in einem Bundesverband für Erziehungshilfe, Eltern-Medientrainer der Landesstelle Jugendschutz Nds., Freiberuflicher Autor und Referent zu diversen Themen wie z.B. Neuen Medien und Kinder- und Jugendhilfe tätig.

 

Entstehungshintergrund

Der Tatsache geschuldet, dass digitale Medien für junge Menschen von großer Bedeutung sind, sollte sich auch die Soziale Arbeit im Sinne der Zielgruppenorientierung und Lebensweltnähe mit eben dieser Thematik auseinandersetzen. Aus diesem Verständnis ist das hier rezensierte Werk entstanden, um dem Anspruch zu genügen, die Lebenswelt der eigenen Klient*innen zu berücksichtigen und entsprechend zu agieren. 

 

Aufbau und Inhalt

Das Werk gliedert sich in 13 Kapitel, um die Aussage „Jugend online“ und die Frage „Soziale Arbeit offline?“ näher zu thematisieren. Ergänzend zu den einzelnen Kapiteln finden sich immer wieder Bereiche mit Tipps und Quellen für weitere Recherche zu den jeweiligen Themen.

Beginnend mit der einleitenden Vorbemerkung wird der Hintergrund als auch der inhaltliche Aufbau beschrieben. Der Einstieg in das Thema befasst sich mit der Konstanz und Veränderung der Medien und Digitalisierung. Demzufolge zeigt sich im nächsten Abschnitt die Bedeutung dieser Veränderungen für die Jugendsozialisation im digitalen Zeitalter. Aufbauend darauf wird ein Einblick in die medialen Welten junger Menschen eröffnet. Es werden relevante Social-Media-Angebote als auch Videospiele aufgegriffen. Fortgesetzt und vertieft wird dies durch die Beschreibung weitere Trends wie z.B. Influencer*innen und E-Sport.

 

Ausgehend davon ergeben sich viele Chancen aber auch Risiken. Diese Ambivalenz zwischen den beiden Polen wird im fünften Kapitel ausführlich erörtert wie z.B. zwischen übertriebenen Ängsten und berechtigten Schutzanliegen, zwischen Unwissenheit und notwendigen Schlüsselkompetenzen, zwischen Freizeitgestaltungsoptionen und Abhängigkeitsgefährdungen und der Fachliche Umgang mit Chancen und Risiken, um nur einige der aufgegriffenen Bereiche zu nennen.

Darüber hinaus wird in einem eigenständigen Kapitel die Rolle der Künstliche Intelligenz in der Kinder- und Jugendhilfe aufgegriffen, bevor der Autor im folgenden Abschnitt die Spannungsfelder im Kontext digitaler Medien und Sozialer Arbeit benennt.

Gerade in Bezug auf die Soziale Arbeit sind die rechtlichen Aspekte nicht unbedeutend, weshalb diese in Bezug auf digitale Medien in einem eigenen Teil in den Fokus gerückt werden. Dabei werden entscheidende Faktoren wie der Jugendmedienschutz, Jugendschutz und Medienbildung oder auch rechtliche Inhalte in Bezug zu jungen Menschen und Fachkräften charakterisiert.

Aufgrund der bisherigen Ausarbeitung lässt sich festhalten, dass sich Fachkräfte mit einigen Herausforderungen und Reflexionsfragen konfrontiert sehen. Diesbezüglich werden essentielle Gesichtspunkte unter dem folgenden Kapitel konkret benannt und näher thematisiert.

Inwiefern Soziale Arbeit online in Zusammenhang mit Onlineberatung, Erziehungshilfen und Jugendarbeit gelingen kann, digitale Medien in der stationären Erziehungshilfe Einfluss nehmen und die Digitalisierung in der einrichtungsbezogenen Offenen Kinder- und Jugendarbeit von Bedeutung ist, wird in den drei darauffolgenden Kapiteln tiefergehend analysiert. In der Abschlussbemerkung wird erneut die relevante Forderung herausgestellt, es gilt sich mit der Bedeutung der digitalen Medien auseinanderzusetzen und diese in die Soziale Arbeit miteinfließen zu lassen.

 

Diskussion

Jugend online! Soziale Arbeit offline? richtet den Blick auf ein bedeutendes Thema für Akteur*innen der Sozialen Arbeit. Dabei liegt der Auseinandersetzung eine spürbare Haltung zugrunde, welche die digitalen Medien nicht verteufelt, sondern im Gegenteil deren Stellenwert wahrnimmt und auch dementsprechend immer wieder herausstellt. In diesem Kontext werden diverse Aspekte aufgegriffen und thematisiert, mit denen sich die Soziale Arbeit beschäftigen sollte. Dabei muss jedoch festgehalten werden, dass inhaltlich Gedanken und Fragen aufgegriffen werden, jedoch nicht immer konkrete Antworten vermittelt werden können. Allerdings werden in den einzelnen Bereichen Impulse gesetzt, welche für die weitere Bearbeitung einen entscheidenden Beitrag leisten können. Das Werk stellt vor allem die Notwendigkeit der Aufarbeitung mit der Digitalisierung heraus und erörtert relevante Aspekte dieser Thematik.

 

Fazit

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Gravelmann ein wertvolles Werk für Fachkräfte geschaffen hat, welche sich im Kontext der Sozialen Arbeit mit den digitalen Lebenswelten von jungen Menschen und deren Bedeutung für die eigene Profession auseinandersetzen wollen. Diesbezüglich kann das Werk einen guten Einstieg ermöglichen, sich mit den zusammenhängenden Chancen als auch potenziellen Gefahren zu beschäftigen, um den thematisierten Anspruch auf Lebensweltnähe zu genügen.

 

MERZ-Zeitschrift für Medienpädagogik

Rezension von Mel-David Tersteegen
M.A. Soziale Arbeit (FH), B.A. Soziale Arbeit (FH) mit Schwerpunkt Jugendarbeit, Jugendsozialarbeit, außerschulische Jugendbildung.
Präventionsfachkraft bei Inside, Condrobs e.V.
Marcus Müller: Gravelmann, R. (2024). Jugend online! Soziale Arbeit offline? Digitale Lebenswelten junger Menschen als Herausforderung für die Praxis Sozialer Arbeit. Beltz Juventa. 157 S., 25,00 €.

 

 

Ole Peter Jagdt, Freie und Hansestadt Hamburg | Landesbetrieb Erziehung und Beratung
Abteilungsleitung Zentrale Sozialpädagogische Aufgaben. In: Forum Erziehungshilfen, 4-2024

 

„Jugend online! Soziale Arbeit offline?“ Ein überzeugendes Plädoyer für eine Auseinandersetzung mit der Lebenswelt junger Menschen.

 

Das Buch „Jugend online! Soziale Arbeit offline?“ von Reinhold Gravelmann ruft die Soziale Arbeit auf, sich mit der Lebensrealität junger Menschen auseinanderzusetzen und die Chancen neuer Medien in ihre pädagogischen Ansätze zu integrieren.

 

Nach einem einführenden Überblick und einer Reflektion der Reaktion Sozialer Arbeit auf bisherige technische Entwicklungen führt der Autor seinen Leitgedanken ein: Medien prägen heute, permanent präsent, alle Lebenswelten. Der Alltag und die Welt seien ‚durchmediatisiert‘, zunehmend unübersichtlich und von Digitalkonzernen dominiert. Dies ist für den Autor jedoch „kein Grund in Kulturpessimismus zu verfallen“ (ebd.:17), sondern es fordert die Soziale Arbeit auf, sich mit den Chancen und Risiken auseinanderzusetzen. „Ein weiter so kann und darf es in diesem Zusammenhang nicht geben. Grundmaxime Sozialer Arbeit ist es, die Lebenswelt ihrer Klientel zu berücksichtigen. Folglich ist auch die Digitalisierung in den Fokus zu rücken" (ebd.:18).

 

Digitale Medien haben bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben junger Menschen ein zunehmendes Gewicht, einem Aspekt, dem sich der Autor in Kapitel 3 zuwendet. Er konzeptualisiert digitale Medien zu einer „neuen, hoch bedeutsamen Sozialisationsinstanz“ (ebd.:26), in der für junge Menschen ortsunabhängige Räume zur Erprobung und Beziehungsgestaltung entstanden sind. Damit begründet Gravelmann erneut die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung. Organisationen und Fachkräfte müssten „Kenntnisse über die Veränderungen im Sozialisationsprozess erwerben und den digitalen Sozialisationsraum erschließen“ (ebd.).

 

Hierzu sind Kenntnisse über die digitalen Medien und deren lebensweltliche Bedeutung notwendig, die Gravelmann im 4 Kapitel darstellt. Dem Autor gelingt ein verständlich aufbereiteter und komprimierter Überblick über die bedeutsamsten Medien und Termini. Wieso ist das Smartphone der „Nabel der Welt“, welche Funktion(en) übernimmt dieses für die jungen Menschen? Wozu nutzen junge Menschen Social-Media und welche Funktionen haben die genutzten Plattformen (Instagram, TikTok, SnapChat)? Wie erleben junge Menschen digitale Spielewelten und was sind „Let´s Play“-Videos? Wie müssen wir uns Influencer:innen vorstellen, was sind virtuelle Sportwelten, Pranks, Challenges oder In-App-Käufe? Weiterführende „Lesetipps“ reichern, hier wie im gesamten Buch, die Informationen an.

 

In Kapitel 5 geht Gravelmann zunächst auf die Rolle von Fachkräften ein. Ihre Haltung ist notwendiger Weise von „Schutzanliegen“ geprägt (ebd.:52), vor deren Hintergrund neue Medien als Herausforderung, Problem oder Gefahr adressiert werden. Zugleich sind Fachkräfte mit rechtlichen Vorgaben konfrontiert, sodass der Umgang mit Medien „oft rigider als in den meisten Familien gehandhabt wird“ (ebd.:57). Der Autor verbindet in diesem Kapitel eine kritische Perspektive, die den Schutzanliegen und gesetzlichen Vorgaben Raum gibt, mit einer Perspektive, welche die Chancen und Möglichkeiten für die jungen Menschen und die Soziale Arbeit fokussiert.

 

Digitale Medien bieten nach Gravelmann Möglichkeiten der attraktiven Freizeitgestaltung, in denen zugleich Abhängigkeitsgefährdungen lauern. Im digitalen Raum stehen den jungen Menschen vielfältige Unterstützungsmöglichkeiten bereit, aber sie können dort auch mit Hate-Speech, Grooming, Mobbing, Propaganda oder Rollenklischees konfrontiert werden. Sie ermöglichen Teilhabe und bergen zugleich das Risiko in sich, dass junge Menschen „in virtuelle Welten abdriften“ (ebd.:64). Besonders gelungen sind seine Ausführungen im Abschnitt „Tinder, Youporn und Beziehungsgestaltung“. Dort stellt er zunächst heraus, dass sich die „Kultur des Flirtens“ und der „erotischen Annäherung“ verändert haben. Diese „vergleichsweise neue Form (…) ist nicht ohne Probleme“ (ebd.:74). Ob Pornoplattform oder DatingApp, beides wird üblicherweise in der Fachwelt als Gefahr bewertet. Gravelmann bestätigt die Gefahren, benennt jedoch auch hier Chancen. Er sieht in den erweiterten Räumen Möglichkeiten zur Erprobung und eine Erweiterung der Handlungsoptionen für junge Menschen, insbesondere in ländlichen Regionen, für queere Jugendliche oder junge Menschen mit Beeinträchtigungen (ebd.).

 

Neue Medien erzeugen für die Fachkräfte der Sozialen Arbeit Spannungsfelder, die zum Wohle der jungen Menschen zu lösen sind. Nachdem Gravelmann diese in Kapitel 7 stichpunktartig zusammenfasst, widmet er sich in Kapitel 8 rechtlichen Aspekten. Aus der UN-Kinderrechtskonvention leitet der Autor ein „Recht auf Zugang zu digitalen Medien“ und ein Recht auf Schutz vor Gefahren ab. Das SGB VIII verpflichtet die Jugendhilfe zur Medienbildung und zum Jugendschutz. Für den Autor sind hiermit die rechtlichen Aufgaben Sozialer Arbeit klar umrissen: „Förderung des Umgangs mit digitalen Medien, Ermöglichung von Teilhabe durch digitale Medien und (…) Schutz vor Gefährdung“ (ebd.:95). Gravelmann attestiert der Sozialen Arbeit eine rechtliche Verunsicherung, die er für unbegründet hält. Die rechtlichen Auslegungen verweisen „auf eine weitgehende Absicherung pädagogischen Handelns und einen Rahmen, der größer ist, als es vielen Pädagog:innen erscheint“ (ebd.:96). Insbesondere eine Orientierung am Alter und der Reife des jungen Menschen, eine Erkundigung über dessen Wissensstand und Nutzungsverhalten sowie das „BBB – Prinzip“ (Belehren, Beobachten, Belangen) sind, neben der Dokumentation der getroffenen Entscheidungen, die wesentlichen Eckpfeiler, um rechtssicher junge Menschen in der Mediennutzung zu begleiten.

 

Das Buch stellt immer wieder den Einfluss der Haltung gegenüber neuen Medien in den Mittelpunkt. Für den Autor stellt die kompetente Auseinandersetzung mit digitalen Medien keine ergänzende Option dar, sie kann keine Nebenkompetenz einzelner Medienpädagog:innen mehr sein. Vielmehr handelt es sich für ihn um einen „fundamentalen, hochgradig relevanten Kern eines (sozial-) pädagogischen Kompetenzprofils“. Folgerichtig spricht er in Kapitel 9 die Fachkräfte direkt an und fordert diese mit gut 50 Fragen zur Selbstreflexion und Standortbestimmung auf.

 

Es folgen drei Kapitel, in denen sich der Autor Praxisfeldern der Sozialen Arbeit zuwendet; der Beratung, stationären Hilfen und der offenen Kinder- und Jugendarbeit. Nach einer Analyse des jeweiligen Stands der Digitalisierung begründet er jeweils die Notwendigkeiten und Chancen, die sich aus einer Hinwendung zu digitalen Medien für diese Arbeitsfelder ergeben könnten, und benennt bestehende Hindernisse und Begrenzungen.

 

Fazit

 

Dem Autor gelingen ein guter und differenzierter Überblick sowie ein motivierendes Plädoyer, sich den digitalen Medien zu öffnen. Dieses Plädoyer untermauert er mit einer lebensweltlichen Begründung und einer Darstellung der Chancen. Dabei ist das Buch erfrischend lesbar geschrieben und ist für eine breite Leser:innenschaft vor allem aus der Kinder- und Jugendhilfe, als Lektüre sehr zu empfehlen.

Ein Aspekt, den das Buch noch nicht adressiert, ist der Konflikt, den die in den späten 1990er-Jahren geborenen jungen Fachkräfte – die ersten „Digital Natives – vielfach mit ihren Organisationen haben. Sie nutzen alltäglich moderne digitale Medien, sind mit diesen aufgewachsen und wollen diese für ihre Arbeit verwenden. Sie geraten dabei jedoch häufig mit organisationalen Anforderungen und Vorgaben in Konflikt. Diesen Bereich weiter zu beleuchten, wäre der nächste Schritt in der von dem Autor zurecht und überzeugend eingeforderten Auseinandersetzung der Sozialen Arbeit mit den digitalen Medien.